JEANNE D’ARC – IDENTIFIKATIONSFIGUR BIS HEUTE? (Sophie Himmelberger, 2d)

Abb. 1 Ausritt bei Ouistreham

Als ich mich an diesem Abend während unserer Camper-Sommerferien durch die Normandie in den Sattel lehnte und am Strand entlang galoppierte, musste ich an meine gestrige ‚Begegnung‚ mit Jeanne d’Arc denken. Nicht viel älter als ich war dieses Mädchen, als sie vor zirka 600 Jahren ebenfalls hoch zu Ross und ebenfalls Richtung Nordwesten ritt – dies jedoch nicht, um wie ich den Sonnenuntergang zu geniessen, sondern um an der Spitze ihrer kleinen Streitmacht die englischen Belagerer zu bekämpfen und damit die Rückeroberung des französischen Thrones und das Ende des Hundertjährigen Krieges einzuleiten.

Abb. 2 im Historial Jeanne-d’Arc

Eindrücklich wird im 2015 eröffneten und innovativ gestalteten Historial Jeanne-d’Arc in Rouen die Geschichte der Nationalheldin nacherzählt und auch ihre Wirkung in den nachfolgenden Jahrhunderten beleuchtet.

Bereits während des mit Hilfe von Hologrammen nachempfunden Revisionsprozesses von 1456 wurde mir bewusst, wie stark diese Figur zu verschiedensten Zeiten für die unterschiedlichsten Zwecke vereinnahmt wurde.

Wieso bietet Jeanne d‚Arc derart viel Identifikationspotential und weshalb bin auch ich heute während meines Abend-Ausrittes noch immer von ihr fasziniert? Mit Hilfe von Büchern, Comics, Internetrecherche und Nachbereitung meines Museumsbesuches möchte ich hier einer möglichen Antwort näherkommen.

Vom Bauernmädchen zur Volksheldin

Etwa 1412 wurde Jeanne im lothringischen Domrémy in einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren; das Geburtshaus im Nordosten Frankreichs ist heute noch erhalten. Mit ihren vier Geschwistern führte sie – soweit überliefert – ein typisches Leben in einem spätmittelalterlichen Dorf. Tägliche Arbeiten auf dem Feld und auf dem Hof sowie das Hüten der Schafe gehörten zu ihrem Alltag. Sie konnte reiten und von ihrer Mutter lernte sie, einen Haushalt zu führen, zu nähen und zu spinnen sowie einige Gebete und Psalmen auswendig aufzusagen, sie konnte aber weder lesen noch schreiben. Jeanne galt – dies ist aus Prozessaufzeichnungen überliefert – als besonders gottesfürchtig, ging gerne und oft in die Kirche und beichtete regelmässig.

Der Hundertjährige Krieg (1337/39–1453), während diesem England und Frankreich um die Vorherrschaft in Westeuropa kämpften, tobte seit über 70 Jahren auch im Norden Frankreichs und man kann sich gut vorstellen, dass ständig drohende Plünderungen und Zerstörung durch die Engländer oder deren Verbündete, die Burgunder, für die Dorfbewohner und damit auch das Mädchen Jeanne sehr belastend waren.

Gemäss eigenen Angaben hörte Jeanne d’Arc erstmals im Alter von etwa 13 Jahren die Stimmen von Heiligen: Zuerst die des Erzengels Michael, später die der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta und nahm diese auch als Erscheinungen wahr. In diesen, für mittelalterliche Vorstellungswelten nicht sehr ungewöhnlichen, wiederkehrenden Visionen wurde Jeanne beauftragt, den Dauphin (frz. Thronerbe Karl VII.) auf den Thron zu bringen und Frankreich endlich von den Engländern zu befreien. Als um 1428 die Engländer neben Paris und Burgund auch Orléans besetzten und die Kriegslage für Frankreich hoffnungslos schien, drängten die Stimmen Jeanne immer stärker, ihre Mission anzutreten und dem himmlischen Auftrag endlich nachzukommen.

Abb. 3 Route von Jeanne d’Arc 1429-1431

So machte sich die damals Siebzehnjährige 1429 auf den Weg zur 20 km entfernten Festung Vaucouleurs. Vielleicht weil die Leute in Jeanne die in einer Sage prophezeite ‚Jungfrau aus dem Eichenwald‘, welche  Frankreich befreien würde, zu erkennen glaubten und vor allem wohl weil Jeanne selbst ein grosses Sendungsbewusstsein hatte, fand sie bald immer mehr Anhänger. Beim zweiten Versuch und nach erfolgreicher Glaubensprüfung (indem sie ein Kreuz küsste) gelang es ihr, vom Dauphin treuen Stadtkommandanten eine Eskorte für die 11-tägige Reise nach Chinon zu erhalten, um dort auf den, seit dem Tod Karls VI. entrechteten, Dauphin zu treffen. Jeanne trug von nun an Männerkleidung, ein Schwert und schnitt sich ihre Haare ab. So wollte sie einerseits glaubwürdiger wirken und sich andererseits – gemäss ihren Worten – vor männlichen Übergriffen schützen.

In Chinon schaffte es die Jugendliche tatsächlich, den Dauphin von ihren beiden gottgegebenen Aufträgen zu überzeugen: erstens, die englische Belagerung von Orléans aufzuheben und zweitens, den König zur Salbung und Krönung nach Reims zu führen. Nach mehrwöchigen religiösen Befragungen durch gelehrte Theologen und einer Prüfung ihrer Jungfräulichkeit (da dies damals der einzige Beweis war, nicht vom Teufel besessen zu sein) sowie kriegshandwerklicher Schulung erhielt sie vom Dauphin eine Rüstung und ein persönliches Banner, sowie ein militärisches Kommando, um einen Proviantzug nach Orléans durchzubringen.

Abb. 4 Miniaturmalerei eines unbekannten Malers, 19./20. Jh.

«Et, vous tous, archers, compagnons de guerre, gentilshommes et autres qui êtes devant la ville d’Orléans, allez-vous en en votre pays, de par Dieu» – «Macht Euch (…) fort in Euer Land, in Gottes Namen», so diktierte Jeanne im berühmt gewordenen Brief vom 22. März 1429 die Kriegserklärung an die Engländer. «Und wenn ihr es nicht so tut, wartet auf die Nachricht der Jungfrau, die euch in Kürze besuchen wird, zu eurem großen Schaden.» Im April kam ihr Zug in der eingeschlossenen Stadt an. Jeanne d’Arc ritt voran. Obwohl sie von einem Pfeil getroffen wurde und vom Pferd fiel, blieb sie auf dem Feld. Dieser Mut und ihr unbeirrbares Gottvertrauen beeindruckte ihre Mitstreiter und steigerte die Kampfbereitschaft des Heeres. Am 8. Mai gelang Jeanne die Befreiung der strategisch wichtigen Stadt an der Loire und begründete ihren Ruf als heroische ‚Jungfrau von Orléans‘ – der Volksheldin.

Nach blutigen Schlachten um weitere nordfranzösische Städte erfüllte sie am 17. Juli 1429 ihren zweiten Auftrag: Sie eskortierte den Dauphin nach Reims, wo er zum französischen König gekrönt wurde, während sie mit der Fahne in der Hand daneben stand.  Jeannes Ruhm war auf dessen Höhepunkt angelangt. Ihre Eltern mussten dank königlichem Dekret keine Steuern mehr zahlen und ihre Familie wurde in den Adel aufgenommen.

Von der Jungfrau zur Hexe

Von ihren Triumphen beflügelt und immer voller Elan wollte Jeanne nun auch Paris von den Engländern befreien, doch der Vorstoss auf die Hauptstadt endete mit einer Niederlage. Nachdem die ‚Pucelle‘ (frz. Jungfrau) militärisch immer erfolgloser wurde, wollte Karl VII. bald nichts mehr von ihr wissen und beschloss – entgegen der Überzeugung der immer noch motivierten Jeanne – einen Waffenstillstand mit dem englischen König. Mit einem dezimierten Heer und schwindender Sieges-Aura kämpfte sie dennoch weiter.

Am 23. Mai 1430 wurde sie schliesslich in Compiègne von den Burgundern gefangen genommen und nach sechsmonatigen Verhandlungen gegen 10 000 Francs an die Engländer ausgeliefert. Diese machten ihr in Rouen den Prozess, welcher vier Monate dauerte und skandalös war; ein geistliches Gericht verurteilte die ‚Pucelle‘ und Königsmacherin als Ketzerin wegen «ihres Aberglaubens, ihrer Irrlehren und anderer Verbrechen gegen die göttliche Majestät». In 12 von 67 Anklagepunkten wurde sie schuldig gesprochen, zum Beispiel wurde sie des Mordes (da sie kein Mann war, wurde sie nicht als Soldat anerkannt also galten alle in den Schlachten getöteten Krieger als Mordopfer) und der Anbetung der Dämonen (ihre Visionen) beschuldigt. So übergab man sie der weltlichen Behörde zur Bestrafung.

Am 30. Mai 1431 wurde Jeanne bei lebendigem Leib auf dem Marktplatz in Rouen als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt und ihre Asche in die Seine gestreut, damit ihre Anhänger später keine Reliquien verehren konnten.

Von der Ketzerin zur Heiligen

Karl VII. erwähnte in den folgenden Jahren Jeanne d’Arc und ihr Schicksal in keiner erhaltenen Quelle und ihm war – so scheint es – ihr Schicksal genauso wie während ihrer Gefangenschaft gleichgültig. Aber der von ihr in Bewegung gesetzte nationale Aufstand gegen die Engländer führte in den kommenden Jahren bis 1453 zur Befreiung Frankreichs und zur Rückeroberung der Gebiete. 1450 veranlasste Karl VII. einen neuen kirchlichen Prozess, mit dem die Jungfrau rehabilitiert werden sollte. Wahrscheinlich geschah dies aus politischen Überlegungen. Er wollte sich wohl einerseits vom Vorwurf des Verrates an der Frau, die ihn an die Macht gebracht hatte, befreien und andererseits, die These, dass er seine Regentschaft einer Ketzerin und damit dem Teufel zu verdanken habe, widerlegen.

1456 endete dieser mehrjährige und gut dokumentierte Revisionsprozess mit einer Aufhebung des Urteils des Inquisitionsgerichts, welches im erzbischöflichen Palais in Rouen (heutiges Historial) verkündet wurde. Aufgrund ihrer Wundertaten wurde Jeanne von der römisch-katholischen Kirche 1909 selig und 1920 von Papst Benedikt XV. heiliggesprochen und wird seither als Heilige und Jungfrau verehrt.

Eine Figur mit tausend Gesichtern

Bauernmädchen, Volksheldin, Jungfrau, Hexe, Ketzerin und Heilige… bereits zu ihren Lebzeiten war Jeanne, so habe ich es während meiner Recherche erfahren, eine Figur mit tausend Gesichtern. Während meiner weiteren Reise durch die Normandie habe ich sie überall angetroffen. Sei es auf unzähligen Denkmälern – kämpferisch hoch zu Ross, in Rüstung mit Schwert und Helm oder leidend und betend auf dem Scheiterhaufen – in Kirchen, auf Plätzen, auf Restaurantschildern oder in Speisekarten, als Schmuck, auf Handyhüllen, auf Kerzen, im Game-Shop, als Spielfigur… ja sogar ihre ‚Tränen‘ als Schokomandeln gab es zu kaufen.

Obwohl die Jungfrau nach ihrem Tod während 300 Jahren Monarchie fast in Vergessenheit geraten war, wurde sie ab dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Revolution und Napoleon und der Idee von einer unabhängigen Nation zu einer Symbolfigur. Danach gewann sie immer mehr an nationaler Bedeutung und ihr Heldenmythos wurde 1801 durch Friedrich Schillers ‚Jungfrau von Orleans‘, wo sie als romantische Heldin (vergleichbar mit ‚unserem‘, zwar nur erfundenem Wilhelm Tell) beschrieben wird, noch verstärkt. Sie wurde zum Sinnbild für das einfache Volk. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute wurde sie von verschiedenen politischen Seiten instrumentalisiert, sowohl von den konservativen, katholischen Rechten als auch von den demokratischen Linken. Seit 1921 wird der zweite Sonntag im Mai als ihr nationaler Feiertag gefeiert.

Auch in der Kultur wurde Jeanne nach dem 1. Weltkrieg für sich entdeckt und so sind zahlreiche Bücher, Hörspiele, Theater- und Musikstücke und Filme, die von ihr handeln, entstanden.

Später wurde sie zu einer feministischen Ikone. Ich kann mir gut vorstellen, dass in moderner Zeit an ihrem Beispiel an französischen Schulen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung vielleicht diskutiert wurde, inwiefern es Jeanne als Jean einfacher gehabt hätte, weil man ihn beispielsweise nicht des Mordes hätte anklagen können. Oder – so denke ich – es liesse sich heute eventuell besprechen, ob Jeanne ein frühes Beispiel für ein Transgender sein könnte.

Jeanne – so habe ich es während dieser Recherche gelernt – hat die Leute im Laufe der Geschichte bewegt und fasziniert bis heute. Im Historial beobachtete ich unzählige französische Familien mit Kindern, die gespannt Jeannes Geschichte lauschten. Ich denke, diese Faszination liegt daran, dass Jeanne ein Vorbild für ganz vieles war und sein kann. Mit ihrer Person lassen sich die unterschiedlichsten Adjektive verknüpfen: sie ist willensstark, tapfer, selbstbewusst, fromm, unterdrückt, begabt, stur… und hat damit ein perfektes Profil für ganz viele Follower (Jeanne hat ähnlich viele Google-hits wie Greta Thunberg) – und hat auch mich in ihren Bann gezogen. Die beinahe endlose Anzahl Informationen zu ihrer Person haben mich beeindruckt und die vielgestaltigen Quellen erstaunt.  Ihre in den Prozessaufzeichnungen bezeugte Schlagfertigkeit fasziniert mich und ihre enorme Überzeugung und ihr mutiges Engagement für eine Sache scheint mir vorbildhaft – so wurde mir klar, dass ich mir nicht nur in unserer Reiterfertigkeit eine Parallele wünsche.

Quellenverzeichnis:

Abbildungsverzeichnis:

  • Abb. 1: Ausritt bei Ouistreham, Quelle: eigenes Bild.
  • Abb. 2: Im Historial Jeanne-d’Arc, Quelle: eigenes Bild.
  • Abb. 3: Route von Jeanne d’Arc 1429-1431, Quelle.
  • Abb. 4: Miniaturmalerei eines unbekannten Malers, 19./20. Jh., Quelle.
  • Abb. 5: Rouens Gassen/Marktplatz 1431 und 2022, Quelle: Eho/Paillou: Jeanne d’Arc. De Feu et de Sang (2018), S. 3.
  • Abb. 6: Rouens Gassen 1431 und 2022, Quelle: eigenes Bild.
  • Abb. 7: Kathedrale von Rouen, Quelle: eigenes Bild.
  • Abb. 8:Eglise Sainte-Jeanne-d’Arc, Quelle: eigenes Bild.
  • Abb. 9: Jeanne d’Arc in der Moderne; Quelle.
  • Abb. 10: Jeanne d’Arc in der Moderne, Quelle.
  • Abb. 11: Jeanne d’Arc in der Moderne, Quelle.
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